
Molino dell‘Avvocato - Trinità - L‘Arte - Piano Audi
Unschwierige Rundwanderung auf guten und gepflegten Wegen entlang der Westflanke des Val Malone.
Das Val Malone ist ein vergleichsweise kurzes Tal am Alpenrand, was bei dem Ort Corio in die piemontesische Tiefebene mündet. Es ist gleichzeitig das östlichste der drei Nebentäler Tesso/Tessuolo/Malone, die jeweils in Nord-Süd-Richtung verlaufen. Im offiziellen Sprachgebrauch gehören die drei Täler nicht mehr zu den Valli di Lanzo, rein geografisch gesehen sind sie jedoch deren östlichste Begrenzung. Trotz der unmittelbaren Nähe zur Po-Ebene wandert man im Val Malone durch ein „richtiges“ Alpental. Der Steilabfall zum Alpenrand hin ist hier enorm, von der höchsten Erhebung des Tals, der Cima dell‘Angiolino (2167 m), bis in die Ebene bei der Kleinstadt Nole (358 m) sind es gerade mal 10 km Luftlinie. Uja di Corio (2145 m) und Monte Soglio (1971 m) sind zwei weitere markante und leicht zu ersteigende Berge, die das Tal im Norden bzw. im Nordosten begrenzen. Alle drei Gipfel befinden sich auf dem langen Kamm, der das Val Malone vom nördlich gelegenen Valle Orco (auch Valle Locana genannt) trennt.
Wie viele andere piemontesische Alpentäler ist das Val Malone stark von Abwanderung und Landflucht betroffen, an dieser Tatsache ändert auch die Nähe zur Po-Ebene nichts. Spätestens nach dem zweiten Weltkrieg brachen grosse Teile der Berglandwirtschaft zusammen, viele zogen weg und suchten ihr Auskommen in den aufstrebenden Industriebetrieben in der nahen Metropole von Turin. Vor allem bei dem Automobilhersteller FIAT mit all seinen Zulieferbetrieben fanden seinerzeit zehntausende von Bergbauern aus den Alpentälern Arbeit und Brot. Sie fanden dort nicht nur eine neue Existenz, sie hofften auf ein bequemeres und weniger arbeitsreiches Leben mit weniger Mühsal. Anstatt von früh bis spät auf dem Hof zu schuften, gab es nun geregelte Arbeitszeiten und sichere Löhne. Gemessen an den damaligen ärmlichen Verhältnissen der Bergbewohner war das eine schier unglaubliche Errungenschaft. Ein paar anschauliche Zahlen: In Ritornato (851 m), eines der beiden talobersten Dörfer, lebten um das Jahr 1900 noch 760 Menschen. Heute sind es noch um die 40, das bedeutet, dass das Dorf 120 Jahre später rund 94% seiner Einwohner verloren hat, eine dramatische Entwicklung.
Das Val Malone ist bis heute ein ruhiges und ursprüngliches Tal, trotz der Abwanderung sind die Spuren und Erinnerungen der einstigen Besiedelung vielerorts allgegenwärtig. Bedingt durch die Nähe zur Ebene sind in den Orten überdurchschnittlich viele Häuser noch intakt und instandgehalten und werden als Wochenend- oder Feriendomizil genutzt. Einige wenige Bauern sind bis heute geblieben, ein paar Höfe gibt es noch, hier und da grasen noch Rinder, Schafe und Ziegen auf den Weiden. Bis auf lokale Aktivitäten haben sich im Val Malone keine nennenswerten touristischen Strukturen entwickelt. Vor vielen Jahren wurde die „Associazione Sentieri Alta Val Malone“ gegründet, eine Gruppe von engagierten Einheimischen, die sich ehrenamtlich um die Wege im Tal kümmert. Seitdem wurden unzählige ehemalige, inzwischen zugewachsene Saum- und Verbindungswege wieder freigeschnitten und im Gelände markiert, Brücken über Bäche gebaut, Wander- und Mountainbikerouten ins Leben gerufen und in Prospekten und im Internet publiziert. In der Folge erfährt das Tal einen gewissen Zuspruch als lokales Naherholungsgebiet, anstatt in einen Dornröschenschlaf zu versinken. Weitere Infos unter https://www.sentierivalmalone.it/ (auch in deutscher Sprache). Davon profitiert wiederum die örtliche Infrastruktur, im Tal gibt es einige nette Lokale, wo man vorzüglich essen gehen kann. Wer lokale Produkte wie z.B. Alpkäse kaufen möchte, findet in Corio, dem Gemeindezentrum am Talausgang, alles was man braucht. Auch in Piano Audi gibt es noch einen kleinen inhabergeführten Dorfladen. Auf der Alpe Soglia (1723 m) befindet sich eine herrlich gelegene Berghütte, wo man einkehren und übernachten kann. Die Unterkunft ist von Juni bis September durchgehend, ansonsten an den Wochenenden geöffnet, auch im Winter, ein idealer Stützpunkt für Touren und Gipfelbesteigungen im oberen Val Malone.
Nach all den Informationen komme ich endlich zu der Tourenbeschreibung. Vor dem Abmarsch lohnt ein kurzer Bummel durch Molino dell‘Avvocato (625 m), der Ausgangspunkt dieser Wanderung. Der tosende Rio Malone donnert zwischen den alten Häusern zu Tal und verleiht dem kleinen Dorf eine malerische Atmosphäre. Jenseits der Brücke beginnt bei einem Wegweiser der alte Saumweg nach Piano Audi und nach Trinità. Der Abzweig nach Piano Audi bleibt wenig später unberücksichtigt, der Weg nach Trinità führt hinauf zu dem Hof Case Vecchia, wo man die Talstrasse überquert. Im weiteren Verlauf geht es kontinuierlich bergwärts, vorbei an einigen kleinen Weilern, mal über Wiesen und Weiden, mal durch stille Wälder. Der Weg ist bestens beschildert und markiert und nicht zu verfehlen. Nach etwa 1,5 Stunden erreicht man offenes und aussichtsreiches Terrain und das kleine Dorf Trinità (911 m), was nur noch von wenige Menschen dauerhaft bewohnt ist. Hier kann man nicht einfach weiterlaufen, ohne sich zuvor ein wenig umzuschauen. Ein beschauliches Bergnest, in den Gassen gackern die Hühner, Hundegekläff, an den uralten Gemäuern bröckelt der Putz. Mitten drin eine historische Kirche, wer weiss, wann hier der letzte Gottesdienst stattfand. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Der Weiterweg führt hinauf zu der Siedlung Case Aggiorgio (1020 m) und von dort in wenigen Minuten zum Colle Matteo (1035 m), der sich mitten im Wald befindet. Eine rustikale Picknickbank lädt zum Verweilen ein. Auf einer wunderschönen Mulattiera (= Saumweg) geht es weiterhin im Wald bergauf, der Abzweig zur Testa Brusà bleibt unbeachtet, einfach der Beschilderung Richtung L‘Arte folgen. Nach einer guten halben Stunde durch dichten Buchenwald erreicht man offenes Terrain und wandert eine Weile ohne nennenwerte Höhenunterschiede auf einem Höhenweg über dem Val Malone. Ein wunderschöner und aussichtsreicher Abschnitt, an manchen Stellen ist der alte Alpweg mit schweren Steinplatten gepflastert. Am Wegesrand die Ruinen der Alpe Losera (1200 m), nur wenig später die ebenfalls aufgegebene Alpe delle Secchie. Wie viele Tiere standen hier einst auf den umliegenden Bergweiden, die heute allmählich von der üppigen Vegetation überwuchert werden? Jenseits der verfallenen Hütten der Alpe Grifun verläuft der nach wie vor gut markierte Weg wieder im dichten Wald. Nach einem kurzen steilen Abstieg wird es wieder sanfter, nach einigem Auf und Ab mündet der Pfad in einen unbefestigten Fahrweg. Auf diesem in wenigen Minuten abwärts zu der Alpsiedlung von l‘Arte (1200 m).
Der verbleibende etwa zweistündige Abstieg ist mehr oder weniger gemütliches Genusswandern. Bei den Häusern von l‘Arte (1200 m) verlässt man die Fahrstrasse und geht auf dem parallel verlaufenden Wanderweg steil hinab nach Case Rui (1120 m), eine ehemalige Sommersiedlung mit einigen hübsch renovierten Gebäuden, die heute als Wochend- oder Ferienhäuser genutzt werden. Von dort auf einem schönen alten Alpweg weiter abwärts nach Case Ieri (1074 m). Der Name Case (= Häuser) ist eine in dieser Gegend häufig verwendete Bezeichnung für einen kleinen Weiler oder für eine der vielen verstreuten Siedlungen oder ein Gehöft. Case Ieri wurde bereits vor langer Zeit aufgegeben, die wenigen Häuser und Ställe verfallen allmählich, auf den Weiden in der näheren Umgebung grasen allerdings in den Sommermonaten noch einige Rinder. Hier beginnt ein besonders schöner Wegabschnitt, nach einem kurzen Abstieg überquert man einen wilden Seitenbach auf einer Steinbrücke. Danach wandert man eine Weile eben durch lauschigen Wald, am Wegesrand glucksen einige kleine Rinnsale, der Pfad schlängelt sich durch einen Teppich voller Buschwindröschen. An der nächsten Wegkreuzung folgt man der Beschilderung Richtung Piano Audi. Für einen Moment geht es steil im Wald abwärts, im weiteren Verlauf über kunstvoll angelegte Treppenstufen entlang von hohen Trockensteinmauern. Der Weg führt in Kürze zu den Häusern von Case Rouget und von dort in weiteren zehn Minuten hinab nach Piano Audi, der talobersten Dauersiedlung auf der orografisch linken Seite des Rio Malone. In Piano Audi und den umliegenden verstreuten Weilern lebten um die vorletzte Jahrhundertwende noch etwa 900 Menschen, heute sind es gerade mal 30 dauerhafte Bewohner. Nach einem erfrischenden Bier oder einem Eis in der Dorfkneipe lautet die Marschrichtung weiterhin bergab. Auf dem alten historischen Saumweg wandert man, vorbei an einigen Bildstöcken, über Case Fiorio und Case Fassero zurück zum Ausgangspunkt in Molino dell‘Avvocato.
- i.d.R. ganzjährig begehbar,
ideal sind Frühling und Herbst, im Hochsommer oft sehr heiss - T2
- 6,0 Std.
- Höhenunterschied: ca. 700 m
- Ausgangs- und Endpunkt: Molino dell‘Avvocato (625 m), ca. 2,5 km nördlich von Corio an der Zufahrtsstrasse nach Piano Audi
Molino dell'Avvocato - Trinità - Colle Matteo - L'Arte - Case Rui - Case Ieri - Piano Audi - Molino dell'Avvocato (28.04.2022)